Telefonat mit Mama. Am anderen Ende eine Frau, die um ihren Mann trauert. Sechzig Jahre waren sie zusammen!
Wir haben viel gestritten, sagt sie, viel zu viel; aber jetzt reden wir miteinander, dein Vater und ich.
Ja, antworte ich, du hast deinen Mann verloren. Das ist sehr hart, das kann ich ein bisschen nachvollziehen als Frau.
Ich höre einer Frau zu, meiner Mutter, die mir klar und deutlich sagt, dass sie allein zurechtkommen will und wird; dass sie das trotz und mit ihrer Vergesslichkeit tun will.
Und plötzlich durchströmt mich die Wärme von Verbundenheit. Ich fühle mich – vielleicht zum allerersten Mal in meinem Leben – mit meiner Mutter verbunden. Ein wundervoller Moment!
Mama, sage ich, ich respektiere voll und ganz deine Entscheidung.
Wie kommen wir nur auf die Idee, uns über den Willen anderer zu stellen und zu meinem, wir wüssten es besser? Ist es aus Angst, wir könnten etwas versäumen, etwas falsch oder uns schuldig machen? Oder weil wir es nicht ertragen, das Altwerden in seiner Peinlichkeit und Unangepasstheit vor Augen zu haben?
Es ist müßig und anstrengend, Dinge aufhalten zu wollen, die nun mal der Lauf der Dinge sind. Werden, Sein, Vergehen. In allem, immerwährende. Und wir? Greifen ständig in die Speichen des Rades!
Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch anderen nicht zu. Leben und leben lassen, loslassen, die Kontrolle, den Anspruch auf Sicherheit, die Erwartung, wir müssten alles im Griff haben, um anerkannt zu sein. Von wem eigentlich?
Weißt du, sagt meine Mutter, ich bin alt; achtzig Jahre. Ich bin vergesslich. Aber das darf ich als alte Frau sein. So lange es geht will ich mich selbst versorgen. Hier sieht es ordentlich und sauber aus, ich esse und ich gehe raus. Ich will frei sein. Ich will nicht mit alten Leuten in einem Heim über Vergangenheit und Krieg sprechen.
Wenn du Hilfe brauchst, dann kümmere ich mich um einen Pflege- oder Besuchsdienst, Essen auf Rädern. Möchtest du das?
Wenn ich aufhöre, mich zu bewegen und meine Dinge zu erledigen, sagt sie, dann mache ich es nicht besser, sondern schlimmer. Solange es irgendwie geht will ich hier in meinem Zuhause bleiben.
Ich bin alt genug zum Sterben; aber vor allem bin ich alt genug, zu leben.
Wenn es mir schlecht geht, rufe ich euch an, meine Kinder.
Sie hält kurz inne: am Wahrscheinlichsten rufe ich dich an, wenn es mir schlecht geht, denn du verstehst mich, Christine.
Ich lasse, ich respektiere! Selbst dann, wenn es mir weh tut, mich verletzt, ich mich machtlos und übersehen fühle. Das ist meine Art von Liebe, so denke ich, so lebe ich, so liebe ich die Menschen, die mir wichtig sind.
So bin ich. Und ich glaube, so bin ich richtig.
Auch wenn meine Mutter sich morgen nicht mehr daran erinnert, dass wir heute telefoniert haben, ist sie eine erwachsene Frau, ein Mensch, dessen Würde gewahrt werden muss – trotz aller Diagnosen, die wir uns zumuten und meinen, ihre Erscheinungsformen behandeln, verstecken oder einbuchten zu müssen. Im Namen der Sicherheit und Fürsorge.
Absurd.
Gefällt mir:
Gefällt mir Wird geladen …