Ideenlese

Es ist angeröstet


Nur die Spitzen

Eine Frau, die sich die Haare abschneidet, trägt sich mit dem Gedanken, ihr Leben zu ändern.

Begleitete Schritte auf einer kurzen Wanderung. Koronarsport. Der Hauch einer Erinnerung daran, welche Sinne die noch zögerliche Sonne zu wecken in der Lage ist. Leben. Da ist so viel Leben in mir. Woher kommt dieser Druck, dieses Schlagen, diese Enge?

Dass es das Herz ist, überrascht mich nicht. Ich kenne das kämpferische Spiel zwischen Kopf und Herz. Migräne und Herzstolpern.

Zeichnung 2022, Alter Zopf

Nur die Spitzen sage ich. Weniger ist mehr antwortet sie. Und das Grau? Mehr oder Weniger? fragt sie.

Ich antworte schweigend, entspanne mich und spüre, dass das Medikament wirkt. Nächstes Jahr werde ich 60.

Ja. Nächstes Jahr werde ich 60. Komisch. Diese 60. Wenn … wenn was? Ich habe das Eine fast überstanden, dann werde ich doch auch das hier schaffen. Es gibt doch Möglichkeiten. Farbe gegen die Angst?

Sie sind noch nicht bereit für Grau. Ihre ganze Ausstrahlung, Ihr Wesen, das passt nicht zu grau. Und ich sage das nicht, weil ich als Friseurin davon profitiere.

Ich denke darüber nach sage ich.

Sie sind so eine coole Frau sagt sie.

Ich werde rot und lächele sie im Spiegel an.

Ich stufe ganz filegran, nur minimal, für die Lebendigkeit sagt sie.

Nur die Spitzen? In den Spitzen viel zu hoch, bedenklich hoch, bedrohlich und dann das andere Extrem des rapiden Abfalls.

Der Kardiologe kommt zum Einsatz, Ultraschall, wieder mal Blutpröbchen, in den Becher pieseln, ach, die Niere, ja es ging mir sehr viel an die Nieren in den vergangenen Wochen und Monaten.

Eine Frau, die sich die Haare abschneidet, verändert sich in genau dem Moment, in dem die Schere die Spitzen vom Rest des Haares trennt. Cut.

Ich liege, ruhe hinein in den Sonntag, der schwarze Tee im kleinen Glas hat die richtige Temperatur. Noch heiß, doch nicht zu heiß, um die Zunge brennend taub zu machen.

Zwischen brennen und taub denke ich was ist dazwischen? Gibt es eine Verbindung? Leben? Elastizität des Seins? Elastizität des Willens?

Mehr Spitze, es nicht auf die Spitze treiben, nicht spitze sein müssen und doch, so richtig spitz auf etwas oder jemanden sein, spitze Zunge? Warum nicht – ab und zu?

Und dann, irgendwann, mit der Zungenspitze …

Nur die Spitzen.

Cut.



3 Antworten zu „Nur die Spitzen”.

  1. Spitze!

    Schön, dass Wanderung, meditative Musik, Haareschneiden und offenes, öffentliches Bekenntnis geholfen haben, Deinen Zustand zu bessern…

    RIP! Rise in Peace!

    …und Du wirst im nächsten Jahr erst 60, Du Glückliche!
    Da hast Du ja noch genügend Zeit zum Leben, Lieben und Küssen…
    …und Ukulelespielen und was Du sonst noch so alles machst und lernen willst…
    …aber immer schön eins nach dem anderen: Erstmal küssen…

    …Ich küsse zumindest mal virtuell Dein bildhübsches Bild…
    (ungefragtes, virtuelles Küssen ist ja nicht verboten, oder? Sonst lass ich das natürlich!)
    …ist trotzdem verdammt aufregend…ich hoffe, mein Herz macht das mit…

    Viele Grüße und noch mehr Genesung gen Werther, Wertherste!

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    1. Da bin ich raus, Freiheit für Fantasie und Gedanken.

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  2. Fantastisch, den Gedanken freien Lauf zu lassen! Ich bin dabei…

    …aber gabs da nicht mal was mit „Die Leiden des Jungen in Werther“? Oder hieß es „der Jungen“?

    Na, Vorsicht ist besser als Nachsicht oder der Mutter in der Kiste das Porzellan zu zerschlagen…

    Jetzt bin ich aber auch raus…

    Danke! Und! Gute Nacht!

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